Ein Geschenk an mein jüngeres Ich.
Als Kind war ich nicht nur Tochter, sondern auch Übersetzerin, Verhandlerin, Brückenbauerin. Ich war das Bindeglied zwischen meinen Eltern und der deutschen Bürokratie. Arztbesuche, Behördengänge, Mietverträge, Formulare – all das lief über mich. Ich habe Begriffe erklärt, Anträge vorgelesen, Dokumente ausgefüllt. Und ich weiß: Damit war ich nicht allein.
Viele Kinder migrantischer Familien übernehmen in Deutschland genau diese Aufgaben. Viel zu früh. Viel zu selbstverständlich. Ohne dass sie gefragt wurden. Ohne, dass jemand prüft, ob das überhaupt zumutbar ist.
Was ich damals nicht wusste: Diese Form der „Hilfe“ ist nicht harmlos – sie ist Kinderarbeit. Laut UNICEF zählt Übersetzungsarbeit für Behörden und Ämter zur verborgenen Kinderarbeit. Das zu wissen, hat mich tief bewegt.
6,2 Millionen Menschen in Deutschland sind funktionale Analphabet*innen
Manchmal wird so getan, als sei das Übersetzen für die Eltern eine Frage des persönlichen Versagens oder der fehlenden Integration. Aber das greift viel zu kurz.
In Deutschland können 6,2 Millionen Erwachsene kaum lesen oder schreiben. Hinzu kommen Millionen Menschen mit unzureichenden Deutschkenntnissen, internationale Studierende, Geflüchtete – alle mit berechtigtem Anspruch auf Informationen, Gesundheitsversorgung, Bildung, Rechte.
Und trotzdem erwarten wir, dass sich Menschen in einem komplexen Behördendschungel zurechtfinden.
Verwaltungsdeutsch ist oft so kompliziert, dass selbst Muttersprachler*innen Mühe haben. Von einfacher Sprache oder barrierefreien Angeboten ganz zu schweigen.
Die Folge? Kinder übernehmen Verantwortung, für die sie nicht bereit sind. Kinder erleben Stress, Überforderung, Verantwortung, Schuldgefühle – und das in einem Alter, in dem sie eigentlich spielen, lernen und unbeschwert Kind sein sollten.

AI Prototyping 101: From Idea to Reality
Was wäre, wenn Kinder einfach Kinder sein dürften?
Aber was wäre, wenn Teilhabe nicht vom Glück abhängt? Was wäre, wenn wir als Gesellschaft Verantwortung übernehmen und Bürokratie verständlich machen? Wenn Kinder nicht die Übersetzer*innen ihrer Eltern sein müssten?
Wenn technologischer Fortschritt endlich genau da eingesetzt wird, wo er dringend gebraucht wird: Bei der Übersetzung von Informationen. Bei der barrierefreien Gestaltung von Verwaltung. Bei echter Teilhabe.
Mit dieser Vision habe ich mich mit Diversity Connects als Challenge-Geberin an einem besonderen Kurs der Universität Stuttgart beteiligt:
AI Prototyping 101: From Idea to Reality
Organisiert vom Institut für Entrepreneurship und Innovationsforschung (ENI) und unterstützt von AISA, hatten Studierende die Aufgabe, sich genau mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Unsere Challenge lautete: „AI for Bureaucratic Inclusion“
Wie kann Künstliche Intelligenz (KI) genutzt werden, um bürokratische Prozesse zugänglicher, verständlicher, mehrsprachig und einfacher zu gestalten?
Mehrere Wochen lang arbeiteten Studierende aus verschiedenen Fachrichtungen an innovativen Prototypen. Viele von ihnen sind selbst internationale Studierende – sie wissen genau, wie es sich anfühlt, wenn Sprache zur Hürde wird.

KI gegen Barrieren: Was dabei herauskam
Die Ergebnisse waren beeindruckend. Hier ein paar Highlights:
- Offline-Terminals für Ämter – für alle, die kein Smartphone besitzen oder keine stabile Internetverbindung haben.
- Apps mit einfacher Sprache – damit Formulare, Briefe und Behördenschreiben in verständlicher Sprache erklärt werden.
- Übersetzungs- und Audiofunktionen – weil Lesen nicht immer möglich ist, aber Zuhören schon.
- Community-gestützte Hilfsangebote – Plattformen, auf denen Menschen sich gegenseitig unterstützen können, wenn die Behörde wieder mal einen Brief schickt, den niemand versteht.
- Verzeichnisse von Anlaufstellen – denn oft hilft der persönliche Kontakt zu Beratungsstellen vor Ort.
Keine Science-Fiction, keine abstrakten Ideen, sondern durchdachte und realitätsnahe Lösungen, die sofort einen Unterschied machen könnten.
Warum wir eine sozialtechnologische Perspektive brauchen
Was ich aus diesem Projekt mitnehme: Wir brauchen mehr als nur KI. Wir brauchen eine sozialtechnologische Perspektive.
Es reicht nicht, einfach Tools zu bauen. Wir müssen verstehen, für wen wir diese Tools bauen.
- Für Eltern, die keine deutschen Behördenbriefe verstehen.
- Für Kinder, die bislang die „Dolmetscher*innen“ für ihre Familien sind.
- Für Menschen mit Lernschwierigkeiten.
- Für alle, die von unserer Verwaltung ausgeschlossen werden, weil Texte unnötig kompliziert geschrieben sind.
Technologie darf kein Selbstzweck sein. Technologie muss Menschen stärken – nicht noch weiter ausschließen.
Bürokratie könnte auch anders gehen
Bürokratie muss nicht sein, was sie heute ist. Sie könnte verständlich, niedrigschwellig und unterstützend sein.
Verwaltung muss Menschen erreichen – nicht Menschen an ihre Grenzen bringen.
Es geht dabei nicht um eine „Extrawurst“, sondern um Gerechtigkeit. Um Grundrechte. Um Teilhabe.
Mein persönlicher Antrieb
Für mich ist dieses Thema mehr als ein Projekt. Es ist eine persönliche Geschichte. Ich weiß, wie es sich anfühlt, mit zehn Jahren im Wartezimmer einer Ärztin oder eines Arztes zu sitzen und Medikamente zu erklären, die ich selbst nicht verstehe. Ich weiß, wie es ist, Formulare für die Eltern auszufüllen, die mir selbst fremd sind.
Und ich weiß, wie viel Kraft es kostet, wenn man in jungen Jahren Verantwortung tragen muss, die viel zu groß ist.
Ich mache diese Arbeit für mein jüngeres Ich – und für alle Kinder, die heute in dieser Rolle sind.
Ein großes Dankeschön
Mein Dank geht an alle, die diesen Kurs möglich gemacht haben:
- Das Institut für Entrepreneurship und Innovationsforschung (ENI) der Universität Stuttgart
- AISA
- Brigitte Schönberger und Marijana Palalic
- Vor allem an die Studierenden, die mit Kreativität, Empathie und Engagement an diesen Lösungen gearbeitet haben
Wir machen weiter. Für die Kinder. Für ihre Eltern. Für uns alle.
Bleibt dran – stay tuned. Denn Bürokratie kann auch anders.